(Ein Märchen)
Es gab einmal einen Kranich und eine Störchin. Jedes von ihnen baute sich ein Hüttchen am entgegengesetzten Ufer des Sumpfes. Dem Kranich kam es langweilig vor, allein zu leben und er beschloß, sich zu verheirathen. „Ich will einmal um die Störchin freien,“ sagte er zu sich selbst.
Bald stelzt der Kranich, tapp, tapp, sieben Meilen weit im Sumpfe herum, kommt endlich auf festen Boden zu der Hütte der Störchin und frägt: „Ist die Störchin daheim?“ – „Ja, ja,“ ruft’s von drinnen, „sie ist zu Hause!“ – „Ach, komm‘ doch einmal heraus und sprich: willst du mich heirathen?“
– „Nein Kranich, ich mag dich nicht zum Mann haben, du hast zu lange Beine und dein Röckchen ist zu kurz, auch kannst du keine Frau ernähren. Mach‘ daß du fortkommst, Langbeiniger!“
Der so abgetrumpfte Kranich kehrte um und ging heim. Die Störchin sah ihm lange nach; es reute sie doch, den Kranich so schnell abgewiesen zu haben. „Warum soll ich eigentlich allein leben?“ sagte sie zu sich. „Es ist doch besser, ich heirathe den Kranich!“ Sie macht sich auf den Weg und spricht, nachdem sie ihn erst bei seinem Hüttchen eingeholt hat: „Kranich, du kannst mich zur Frau bekommen!“ – „Nein, nein, Störchin, ich will dich nicht zur Frau, kann dich gar nicht brauchen. Geh‘ nur heim!“
Da weinte die Störchin vor Scham und kehrte um. Der Kranich besann sich: „Thut mir doch eigentlich leid! Weßhalb habe ich sie nur fortgeschickt? Sitzt man immer allein, so wird Einem die Zeit lang. Ich nehme sie und will lieber gleich hingehen.“
Er marschirt durch den Sumpf, trifft sie und sagt: „Störchin, ich habe mich eines Besseren besonnen: ich komme, dich zu holen.“ – „O nein, Langbeiniger, jetzt erst recht nicht! Dich heirathen? Fällt mir nicht ein!“
Der Kranich stapfte wieder heim. „Ei, ei,“ dachte die Störchin, „warum habe ich jetzt diesem schmucken Freier einen Korb gegeben?“ Und sie stelzt geschwind hinter dem Kranich her – nun will er aber wieder nicht.
Und so gehen sie noch heutigen Tages einander nach, möchten sich gerne freien – bekommen sich aber nicht.
(Unbekannter Verfasser)
Dieser Text und Bilder sind Gemeinfrei.
Quelle: Fliegende Blätter: Der Kranich und die Störchin (Ein Märchen), Nro. 1832 / 10, S. 3
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