Am Anfang war das Wort Das Tagebuch Stefan Zweig: Aufruf zur Geduld

Stefan Zweig: Aufruf zur Geduld

Zu den siebenhundertundfünfzig Aufrufen und Manifesten des letzten Jahres noch einen (den niemand zu unterschreiben braucht): Aufruf zur Geduld!
     Einen Aufruf gegen die Aufrufe, gegen die voreilige Zusammenrottung zusammenhangloser Menschen, die, um irgend etwas zu beschleunigen, was sie dumpf wünschen, sich zu Gruppen vereinen, die unter gleichem Wort wahllose Verschiedenheit der Begriffe einhürden. Nie war geistig die Neigung zum Herdentrieb bei den Intellektuellen stärker als in in diesen Jahren, die Neigung, sich durch Masse zu verstärken, durch Echo – das doch nur bewegte Luft bleibt, so laut es auch dröhnt – statt durch innere Intensität. Die rasende, die krankhafte Angst, irgendwo bei einer Bewegung nicht dabei zu sein, einen Anschluß zu versäumen, hat ein Mitläufertum erzeugt, so kläglich, so klein, so geistig wertlos, so moralisch nichtig wie alle Uniformität. Kaum ist der Krieg da, so rotten sich die Entlegensten zusammen, um, jeder, Deutschland der Welt zu erklären, kaum ist das Wort Expressionismus erfunden, so deutet und deutelt jeder kleiner Schreiber, jeder Maler, jeder Dozent und Schullehrer sein höchst unpersönliches Sein in das neue Wort hinein. Kaum hängt die rote Wolle des Bolschewismus am Himmel, so schreibt jeder sein Broschürchen, alles bündelt sich hastig zu geistigen, zu handwerklichen Sowjets. Und kaum ist der Krieg zu Ende, so entdecken sie plötzlich alle ein neues Feld, die Völkerversöhnung, die Internationale des Geistes, und flöten Rolland an und Barbusse.

     Hier nun Halt zu rufen und zur Geduld mahnen, scheint mir Pflicht. Denn jene Zusammendrängungen nationaler und artistischer Bestrebung waren in einem höheren Sinn gleichgültig. Die zwölftausend Broschüren der deutschen Professoren und siebentausend Bände deutscher Kriegslyriker las draußen kein Mensch, und die Neutralen, denen sie zentnerweise von der Propaganda ins Haus geschickt wurden, heizten im kohlenarmen Winter ihre Oefen damit. Ob sich zweitausend oder sechstausend deutsche Dichter und Maler zum Expressionismus bekannten, war unwesentlich – ein Buch wie Franz Werfels „Gerichtstag“ stellt ihn so strahlend in die Zeit, daß der Begriff vor dem Werk erblindet. Aber wo diese deutsche Neigung zur Bündelei an Europa rührt, an die Welt, muß der unwissenden Ungeduld energisch in den Weg getreten werden: das Manifest der 931 hat gezeigt, welchen Schaden Ungeduld und unbelehrte Eilfertigkeit anzurichten vermag.
     Eine Anzahl Menschen empfinden jetzt plötzlich den Wunsch nach geistiger Einheit Europas. Begreiflicherweise: denn Deutschland befindet sich heute in einer Isolierung des Hasses, wie niemals ein Nation, und der Durst nach Freundschaft, nach Brüderschaft und Anteilnahme brennt in Millionen Herzen. Begreiflich, daß sie nach jedem Funken, jedem Lichtschein vom andern Ufer hinüberschauen und sehnsüchtig ihm entgegenwinken, daß sie rufen, schreien und jubeln, wenn irgendein Gruß – wie etwa jener der „Clarté“, die ja doch nur auch ein Fünkchen Licht ist, noch keine Helligkeit – herweht, daß sie freudig die Möglichkeit begrüßen, wieder kosmopolitisch an einem Tisch beisammenzusitzen.
     Aber an einem Tisch – seien wir uns darüber klar! – viel weiter hinaus reicht es heute noch nicht. Die paar Menschen, die drei Dutzend in allen Nationen, die immer einig waren, brauchen einander nicht anzurufen, sie kennen einander, und was jetzt eilig dazutritt, sich hastig zu ihnen drängt, bleibt bedeutungslos für das Ziel. Denn es handelt sich bei der Idee des zukünftigen einigen Europa nicht darum, wer der momentanen Meinung nach Internationalist ist, sondern wer es der Ueberzeugung nach ist. Ich versuchte einmal, diesen Gegensatz (den die wenigsten erkennen) zu formulieren: „Meinung haben viele, Ueberzeugung ganz wenige. Meinung fliegt zu aus Wort, Zeitungsblatt, Wunsch und Gerede, fliegt wieder fort mit dem nächsten Wind und ist immer dem Druck der Luft unterworfen. Ueberzeugung wächst aus Erlebnis, nährt sich an Bildung, bleibt persönlich und unteilbar an den Tatsachen. Meinung ist Masse, Ueberzeugung der Mensch.“ Und ich füge noch bei: Meinung ist Ungeduld, Ueberzeugung Geduld. Wer rasch zuläuft, läuft rasch wieder fort. Deshalb dies Mibehagen, das wir empfinden, wenn der Internationalismus, der heute nach dem Kriege als Bekenntnis ganz gefahrlos ist, mit einemal soviel Zuläufer findet. Denn diese Ungeduldigen wollen Scheinresultate: Kongresse und Besuche, eine Attrappe von Versöhnung, in der immer nur dieselben drei Dutzend Schauspieler mit immer anders verteilten Rollen spielen werden, begleitet von einigen opportunistischen Statisten, die jetzt, wo das Stück einigen Applaus hat, sich zugesellen.

Aber geben wir uns keiner Täuschung hin: es ist ein Schauspiel nur. Ernüchtern wir die eigene Neigung, zwingen wir uns um zu jenem bessern Gefühl, das mit dem unheroischen Namen Resignation genannt wird und doch der wahre Heroismus ist: zur Geduld. Haben wir den Mut, uns zu sagen: wir sind eine verlorene Generation, wir werden das einige Europa nicht mehr sehen. Zwischen uns und Frankreich liegen die verwüsteten Gebiete und drei Millionen Gräber. Zaubern wir keine Potemkinschen Dörfer herauf, täuschen wir uns nicht darüber, daß all die Zuläufer abfallen werden, wenn nicht im ersten Ansprung die Völkerversöhnung zusammenkommt (oder ein neuer Sprengstoff erfunden wird, der den Sieg sichert). Haben wir den Mut, zu sagen: wir sind drüben und herüben nur kleine, ganz unendlich kleine verläßliche Minoritäten, alles, was wir tun und wirken, ist unfruchtbar, unsichtbar, undenkbar in der gegenwärtigen Zeit, die vierhundert oder tausend Menschen, die jetzt die Manifeste mit unterschreiben, nässen nur weißes Papier. Locken wir nicht die Begeisterung der Jugend in den Wahn, sie könnten morgen oder in fünf Jahren schon wieder auf den Bänken der Sorbonne und den geliebten Straßen des Quartier Latin mit Kameraden schwärmen, bewahren wir sie vor allzu stürmischer Anbiederung (die, enttäuscht, in Haß umschlagen würde), mahnen wir mit zum einen: zur Geduld. Vor Gott sind tausend Jahre ein Tag, im Leben eines Volkes jede Generation nur eine Stunde: denken wir über unsere verlorene hinaus der nächsten entgegen, die – ich fürchte es gegen meinen Wunsch – wohl schon hinter unseren Tagen ist. Und suchen wir keine Fülle, kein Getümmel von Menschen, wo immer nur der Platz einiger weniger war: in der geduldigen werktätigen, anonymen Aufopferung zu unsichtbarem Ziel. Lassen wir die rasch aufsteigenden Feuerwerke der Manifeste, sie stürzen tatlos aus den Himmeln unserer Hoffnung zurück: gehen wir langsam den dunklen Weg unserer Erden, den Weg der Geduld!

– Stefan Zweig –

Dieser Text ist Gemeinfrei.

Quelle: Stefan Großmann (Herausgeber): Das Tage-Buch, 10.01.1920, bei: Ernst Rowohlt Verlag, S. 7 ff.


1: Anmerkung der Herausgeberin: Das Manifest der 93 diente vor allem zur Verbreitung von Fakes, man verneinte beispielsweise die Neutralitätsverletzung der Deutschen in Belgien. Publiziert wurde es am 4. Oktober 1914. Insgesamt unterzeichneten den Aufruf 93 Wissenschaftler und Menschen aus dem Kulturbereich.

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