Am Anfang war das Wort Fliegende Blätter,Story Reinhard Volker: Der Kranich

Reinhard Volker: Der Kranich

Im Schloßparke, der mitten im Städtchen seine Wipfel breitete, wurde ein zahmer Kranich gehalten. Man hatte ihm die Flügel verschnitten; deshalb war er zahm. Er sah sehr lächerlich aus, wenn er gedankenversunken unter den alten Platanen stand und, den nackten Kopf schräg zur Seite neigend, mißtrauisch herüberblickte, wenn unser jugendfröhliches Lachen allzu hell aus dem Holunderbuschwerk hervorschlug.
     Gelassen stelzte er mit den langen Beinen durch’s Gras, jederzeit voller Würde und ruhiger Grandezza. Nur, wenn die Spätherbstsonne warm und goldig zwischen den breiten Blättern hindurchschien und der klare Oktoberhimmel tiefblau sich in’s Unermeßliche dehnte, schüttelte er manchmal jäh, wie von einem schreckhaften Gedanken verstört, die verstümmelten Flügel. Und dann ertönte aus seiner Kehle ein Schrei, ein seltsam dröhnender Schrei; man wußte nicht recht, was er bedeuten wollte.

     Es ging auch manchmal ein alter Mann im Garten spazieren. Nachdenklich schritt er auf den Kieswegen dahin, und wenn er bei dem Vogel vorüberkam, nickte er ihm zu.
     Ich hörte, daß er ein krankes Weib habe und Sorgen um’s Brot, daß er daheim sitze und Noten abschreibe, und nur dann und wann einmal auf ein paar Augenblicke herauskäme, um Luft zu schöpfen. Sein Haar war schon weiß, und er trug es lang wie ein Künstler. Man erzählte, von Haus aus sei er eigentlich ein großes Talent, aber das Leben habe ihm die Flügel verschnitten.
     Mir träumte manchmal von ihm. Und es war merkwürdig, ich hörte ihn dann denselben Schrei tun, den der Kranich tat, denselben Schrei, von dem man nicht wußte, was er bedeuten wollte. Und wunderlich weh klang dann dieser Schrei. –

     Eines Tages war der Alte zu Geld gekommen. Ich weiß nicht, hatte er in der Lotterie gewonnen oder geerbt – kurz, er hatte Geld und seiner Sorgen ledig.
     Von nun an kam er täglich in den Park. Aber, mochte ihm nun der unverhoffte Segen zu Kopfe gestiegen sein oder die frische Luft ihn berauschen, von Tag zu Tag wurde er immer seltsamer.
     Erhobenen Hauptes sah man ihn schreiten, seine Augen glommen, und die langen Enden des farbigen Halstuches flatterten jugendlich in den Lüften. Mitunter auch sprach er aufgeregt vor sich hin wie ein Mime, der seine Rolle lernt. Und schließlich kam es heraus, daß er auf seine alten Tage den Traum seiner Jugend noch verwirklichen und unter die Schauspieler gehen wollte.
     Wir hatten damals eine Theatergruppe im Städtchen, und das fahrende Volk gewährte dem närrischen Alten und seinen Erbtalern die freundliche Aufnahme.
Und wirklich, eines Morgens prangte sein Name auf dem Zettel. – Noch am Nachmittage sah ich ihn im Park; mit großen Schritten wandelte er unter den Bäumen. Seine Augen leuchteten vor Glück. –

     Das ganze Städtchen war am Abende versammelt, um den alten Mann spielen zu sehen. So recht amüsieren wollte man sich einmal.
     Aber, wie er nun vortrat und stand: als Lear, König Lear, im fürstlichen Purpur, im Schmucke seines weißen ehrwürdigen Haares, wie er die Augen groß und flammend auf uns gerichtet hielt, da verstummte das Kichern. Denn es lag etwas Rührendes, etwas seltsam Ergreifendes in diesem alten, in tiefer Begeisterung der Erde entrückten Antlitz.
     Doch nun, nun geschah etwas ganz Überraschendes.
     Er bewegte die Lippen, in ungeheurer Erregung hob sich seine Brust – aber kein Wort wurde vernehmbar.
     Und plötzlich, plötzlich drückte er die Hände vor’s Antlitz und fing an zu weinen.
     Der Vorhang fiel, und wir gingen in der wunderlichsten Stimmung nach Hause. –
     Am nächsten Morgen führte mein Weg mich wieder durch den Park. – Es war ein schöner sonniger Tag im späten Herbste, und die Zugvögel strichen nach Süden.
Da war auch mein Freund, der Kranich!

     Aber er war heut‘ ein anderer als sonst. Verwirrt und mit aufgeplusterten Federn trippelte er hin und her, er machte die merkwürdigsten Sprünge und rüttelte aufgeregt seine aschgrauen Flügel.
     Und mit einem Male erblickte ich ihn, wie er sie ausspreitete weit, weit und sich rauschend emporhob in die Lüfte.
     Da kreiste er schon über den Wipfeln.
     Und wieder dröhnte sein Schrei.
     Aber es war ein anderer Ton als vordem – ein Schrei des Entzückens war es, ein Jubelruf seligsten Triumphes!
     Doch plötzlich, es waren kaum einige Sekunden vergangen, sah ich einen schweren dunkeln Körper jählings herniederstürzen.
     Und schon lag er unten mit gebrochenem Halse, der arme Alte, der verlernt hatte zu fliegen.

Reinhard Volker

Dieser Text ist Gemeinfrei.

Quelle: Reinhard Volker: Der Kranich, in: Fliegende Blätter, Nro. 3382, S. 4 f.

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Bildquelle: Mit freundlicher Genehmigung von Kunst braucht Zeit (): Ruf des Kranichs

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